Auf Wiedersehen in einem Jahr: Findorffer verabschiedeten sich von ihrer historischen Lok

Wie Johann Reiners auf Reisen ging

Weidedamm. In der Nacht davor hatte Birgit Busch nicht gut geschlafen. Die Jan Reiners-Lok war beim Versuch, sie von ihrem Sockel zu heben, auseinandergebrochen. Doch das war zum Glück nur ein schlechter Traum der Vorsitzenden des Findorffer Bürgervereins. In Wirklichkeit ist alles gut gegangen, wie mehr als 200 Findorfferinnen und Findorffer – darunter auch Innensenator Ulrich Mäurer – mit eigenen Augen sehen konnten. Am vergangenen Donnerstagvormittag ging „Johann Reiners“ auf Reisen. In den kommenden Monaten soll die antike Dampflokomotive in der Werkstatt des Deutschen Eisenbahn-Vereins (DEV) in Bruchhausen-Vilsen restauriert werden. Und das ist wirklich höchste Eisenbahn.

Aufregend war es allemal. „Höchste Anspannung“ hatte Thorsten Schultz, technischer Ausbilder in der Feuerwehrschule Bremen, bei seinen Leuten registriert, und war nach dem erfolgreichen Abschluss „höchst zufrieden“. Um Punkt neun Uhr hatten die Vorbereitungen auf dem Platz an der Ecke Hemmstraße/Fürther Straße begonnen. Um halb elf ging Johann Reiners in die Luft, gestützt von stählernen Traversen, seine schätzungsweise 17 Tonnen Gewicht sicher gehalten von vier Hebeschlingen, von denen jede einzelne hätte zehn Tonnen tragen können. Für einen kurzen Moment hielten die Zuschauer kollektiv den Atem an, weil die schwebende Lok in Schräglage kippte. Doch als sie eine Viertelstunde später punktgenau auf der Ladefläche des wartenden Schwerlasttransporters verzurrt war, gab es eine Runde respektvollen Applaus. Oberbrandmeister Steven Schreiert konnte das Führerhaus des Feuerwehrkrans vorerst verlassen. Mit der Abladeaktion in Bruchhausen-Vilsen stand den Bremer Feuerwehrleuten Teil Zwei der Übung noch bevor. Für die Fahrt hatte Michael Pröschild gemächliche eineinhalb Stunden eingerechnet, und stellte sich schon amüsiert die staunenden Autofahrer vor: „Eine alte Lok überholt man schließlich nicht jeden Tag“, so der Transportunternehmer, der den Bremer Schwerlast-Logistiker Holler und Pröschild in vierter Familiengeneration führt.

Seit 1967 steht die Dampflokomotive, Baujahr 1899, als Denkmal Findorffer Geschichte auf dem Gelände des ehemaligen Hemmstraßenbahnhofs. Mit Blumen geschmückt und voll besetzt war der Zug am 4. Oktober 1900 zu seiner Jungfernfahrt abgedampft. Unter den Passagieren der Jungfernfahrt war auch der 75-jährige Ökonomierat Johann Reiners. Der Vorsitzende des Landwirtschaftlichen Vereins Lilienthal hatte sich jahrelang für die Einrichtung der Kleinbahnstrecke engagiert. Ihm zu Ehren wurde die Bimmelbahn im Volksmund zu „Jan Reiners“.

Für die Erschließung der Moorgebiete war die Bahn von großer Bedeutung. Außer einigen holprigen Landstraßen gab es nur den Wasserweg über Hamme, Lesum, Wümme und Torfkanal.  Was vorher nahezu eine Tagesreise war, verkürzte die Kleinbahn mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern auf gerade einmal ein bis zwei Stunden. Jan Reiners lieferte Kunstdünger, Kohle und Baumaterial in die eine Richtung, und kam mit Torf, Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten zurück. An den Wochenenden wurden erholungssuchende Städter aufs Land transportiert, und die unternehmungslustige Bremer Jugend zum Sonntagstanz nach Lilienthal. In den Hungerjahren nach den beiden Weltkriegen wurden Hamstertouren mit der Jan-Reiners-Bahn für viele Bremerinnen und Bremer überlebenswichtig. 

Alfred Freese konnte sich noch lebhaft an das Tuten und Bimmeln erinnern. „Jan Reiners gehörte einfach dazu. Als die Leute noch keine Autos hatten, ging ohne den Zug überhaupt nichts“, erklärte der 91-Jährige, der an der Neukirchstraße wohnt und die Transportaktion mit Interesse beobachtete. Doch mit den Wirtschaftswunderjahren und der wachsenden Konkurrenz von Autos, Lkws und Omnibussen wurde die Kleinbahn zum verzichtbaren und zunehmend teuren Vergnügen. Die Zahl der Passagiere und der Transportgüter schrumpfte, die Bahn wurde zum Zuschussbetrieb und war auch den Findorffern irgendwann ziemlich lästig. Am 22. Mai 1954 trat die Jan-Reiners-Lok ihre letzte Fahrt vom Bremer Parkbahnhof in Richtung Tarmstedt an.

Insgesamt waren es fünf Lokomotiven, die damals ausrangiert wurden. Nur Lok Nr. 1 verließ Findorff seitdem nie wieder. In der Armaturenfabrik von Gustav F. Gerdts – heute Gestra – tat die Dampfmaschine noch ein paar Jahre lang guten Dienst. Danach überließ das Findorffer Unternehmen die historische Lok dem Bürgerverein, dessen Mitglieder seit nun mehr als 50 Jahren ehrenamtlich und kostenlos Reinigung, Pflege und Wartung übernehmen. Eine große Sanierungsaktion gab es zuletzt im Jahr 1989, damals in einer Speziallackiererei auf dem AG Weser-Gelände. Im vergangenen Frühjahr wurde dem Vereinsvorstand klar, dass es wieder einmal höchste Zeit sei. Die Witterung hatte derart an dem guten Stück genagt, dass der Verein Sicherheit und Standfestigkeit nicht mehr dauerhaft garantieren mochte.

Für Transport und Restaurierung hat der Verein rund 40 000 Euro veranschlagt. Rund 30 000 Euro kamen über eine Spendensammlung zusammen, an der sich viele Privatleute, Findorffer und Bremer Unternehmen beteiligt hatten. Der Findorffer Stadtteilbeirat steuerte 8000 Euro bei. Nicht zu Buche schlug dabei der Einsatz der Bremer Feuerwehr: Die Feuerwehrschule nutzte den Spezialauftrag als Schulungsmaßnahme für ihren aktuellen Kranmaschinistenlehrgang. Bis die Findorffer „Johann Reiners“ wiedersehen, könnte nun ein Jahr vergehen. So viel Zeit hatte sich das überwiegend ehrenamtliche Werkstatt-Team des DEV erbeten

„Als die Leute noch keine Autos hatten, ging ohne den Zug überhaupt nichts.“
Alfred Freese (91), Zeitzeuge

Text: WK Anke Velten, Foto: H. von Thenen

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